Verbunden mit der Natur – der Sitzplatz

Ich sitze auf einer Bank am Waldrand. Mein Blick schweift über eine Wiese, über Obstbäume, über die Kirchturmspitze des nahe gelegenen Dorfes. In der Ferne schimmern bläulich die Vogesen. Ich atme tief durch. Hier bin ich richtig, hier bin ich ruhig, hier kann ich einfach sein. Mein Sitzplatz.

Blick von meinem Sitzplatz an einem klaren Wintermorgen. Entdeckst du den Mond?

Der Sitzplatz ist eine Übung aus der Wildnispädagogik. Ich lernte sie im Rahmen meiner Naturcoaching-Ausbildung kennen und diese Übung war für mich ein echter Gamechanger.

Wenn ich bisher draußen war, war mein Fokus so gut wie immer auf etwas gerichtet: Wandern, Pflanzen entdecken und sammeln, Pflanzen bestimmen und fotografieren, Nachdenken, mit mir ins Reine kommen. Ich tat aktiv etwas. Und jetzt sollte ich auf einmal nur an einem Platz sitzen! Das fühlte sich erst mal sehr seltsam an. Seltsam, aber von Anfang an richtig und stimmig!

In der Wildnispädagogik wird das Konzept des Sitzplatzes genutzt, um Menschen dabei zu helfen, eine tiefere Verbundenheit zur Natur zu entwickeln, ihre Sinne zu schärfen, innere Ruhe zu finden und eine gesteigerte Achtsamkeit für die natürliche Umgebung zu entwickeln. Diese Methode fördert nicht nur die Naturerfahrung, sondern auch die persönliche Entwicklung und ermöglicht eine tiefere Wertschätzung für die natürliche Welt. Durch das längere stille Sitzen an einem Platz verschmilzt man förmlich mit der Umgebung. Tiere tauchen auf, Geräusche werden klarer und Details, die man normalerweise nicht sieht, zeigen sich.

Winterdetail am Wegrand

Als ich zum ersten Mal davon hörte, wusste ich sofort, wo mein Sitzplatz sein würde. Seither suche ich diesen Platz immer wieder auf. Manchmal früh morgens, vor allem im Sommer, um aus dem Wald die Vogelstimmen zu hören. Manchmal abends, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Wenn ich unruhig oder voller Zweifel bin, hilft mir mein Sitzplatz dabei, wieder ruhig zu werden und neuen Mut zu fassen. Manchmal fahre ich mit dem Fahrrad hin, manchmal ist mein Sitzplatz die Unterbrechung bei einem ausgedehnten Spaziergang. Ich saß dort schon bei Regen und in der Sommerhitze. Im Winter begleiten mich eine Decke und eine Thermoskanne mit heißem Tee.

Inzwischen habe ich auch einen Stehplatz, um den Sonnenaufgang zu beobachten!

Wie geht diese Übung genau?

Du suchst dir einen Platz in der Natur, an dem du dich still hinsetzen kannst. Er sollte gut für dich zu erreichen sein, sodass du auch mal für kurze Zeit hingehen kannst. Er sollte abgeschieden genug sein, dass du nicht ständig gestört wirst, aber du sollst dich auch sicher fühlen, sodass du dich ganz deinen Empfindungen hingeben kannst. Gerade für Frauen ist Sicherheit in der Natur ein wichtiger Aspekt.

Das kann ein Platz am Waldrand, an einem See- oder Fussufer oder auch ein Platz in deinem Garten oder in einem nahegelegenen Park sein. Wichtig ist, dass du dich gut fühlst und entspannen kannst.

Wenn du einen guten Platz gefunden hast, kannst du langsam eine Beziehung zu ihm aufbauen. Du kannst einfach nur still sitzen und beobachten. Die Augen schließen und lauschen. Hörst du Vögel oder andere Tiere? Spüre, wie die Temperatur ist, ob du den Wind auf der Haut spüren kannst, die Sonne dich wärmt. Du kannst es dir bequem machen, ein Sitzkissen, eine Decke mitnehmen, etwas zu trinken, vielleicht etwas zu schreiben. Mit dem Ort verschmelzen, unsichtbar werden. In der Wildnispädagogik wird empfohlen, mindestens einmal in der Woche für eine Stunde an den Sitzplatz zu gehen. Aber natürlich bist du völlig frei, so häufig oder selten zu gehen, wie es für dich passt und so lange oder so kurz zu bleiben, wie du willst. Es ist dein Platz, der auf dich wartet, um für dich da zu sein.

Blick von meinem Sitzplatz Nummer Zwei. Nicht ganz so einfach zu erreichen, dafür abgeschiedener und ruhiger.

Der Ansatz des Sitzplatzes ist unspektakulär, aber äußerst wirkungsvoll. Über das stille Sitzen entwickelt sich mit der Zeit eine tiefe Verbindung zu dem Ort und gleichzeitig zu sich selbst. Der Sitzplatz hilft, einen ruhigen Ort in sich zu finden und in Kontakt mit dem Teil in sich zu kommen, der weiß, was gut und richtig für uns ist.

In der Verbundenheit mit der Natur und dem Verschmelzen mit der Umgebung werden Probleme kleiner und Lösungen deutlicher. Alles rückt in die richtige Dimension, denn wie bedeutend ist das, was mich im Moment so aufregt und beschäftigt, denn wirklich? So wie in der Natur alles entsteht und vergeht, können auch wir darauf vertrauen, dass unsere Probleme, so wie sie entstanden sind, wieder vergehen werden. Manchmal müssen wir aktiv werden, manchmal können wir abwarten. Aber so sicher, wie auf den Winter der Frühling folgt, so sicher wird auch für uns nach einer schweren Zeit wieder eine leichtere kommen.

Am Sitzplatz können wir dieses Vertrauen entwickeln, wenn wir bereit sind, es zuzulassen.

Wo wartet dein Sitzplatz auf dich?